Wie man sich vor Regressen schützen kann!

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Ein Kommentar von Dr. med. Gerd W. Zimmermann

Prüfgremien sind paritätisch mit KV- und Kassen­vertretern besetzt. Die KV-Vertreter leiten ihre „Sendung“ davon ab, dass bei den Honorar­anforder­ungen die „Solidar­gemein­schaft der Vertrags­ärztinnen und -ärzte“ durch Regresse vor übermäßigen Leistungs­abrechnungen Einzelner geschützt werden muss. Den Kassen­vertretern geht es schlicht und einfach um Einspa­rungen bei der Arznei­mittel-, Heil­mittel- und Hilfs­mittel­verordnung. Hier herrscht in der Regel eine Art „Große Koalition“: Die KV-Vertreter winken Arznei-, Heil- und Hilfs­mittel­regresse durch, die Kassen­vertreter bedanken sich mit einem identischen Verhalten bei den Honorar­regressen. Helfen kann deshalb nur eine Klage vor dem zuständigen Sozial­gericht (SG). Dessen Spruch­praxis sollte man aber kennen, bevor man diesen Schritt wagt.

Praxisbesonderheiten sofort angeben!

Die Betreuung von älteren Patientinnen und Patienten in einem Pflege­heim kann bekannt­lich eine Praxis­besonder­heit bei der Arznei­mittel­verordnung darstellen. Nach einem Urteil des Landes­sozial­gerichts (LSG) Baden-Württemberg muss ein erhöhter Behandlungs­bedarf, der diese Praxis­besonder­heit begründen soll, aber schon im Verfahren vor den Prüfgremien so genau wie möglich angegeben und belegt werden (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15.11.2023 - L 5 KA 3043/21).

Im vorliegenden Fall ging es um eine allgemein­medizinische Gemein­schafts­praxis, die viele Patien­tinnen und Patienten im Bereich Palliativ­medizin, Geriatrie und Geronto­psychiatrie und Demenz betreute. Die Prüfungs­stelle stellte ein Über­schreiten des Fach­gruppen­durch­schnitts bei den Arznei­mittel­verordnungen fest, ohne diese Praxisbesonderheit zu berücksichtigen. Der Aufforderung der Praxis, das in diesem Bereich verordnete Medikamentenvolumen bei der Fach­gruppe zu vergleichen, wurde nicht Folge geleistet und ein Regress von rund 30.000 € festgelegt. Auch im Wider­spruchs­verfahren vor dem Beschwerde­ausschuss wurde diese Entschei­dung bestätigt. Die Praxis glaubte, diese nicht sehr „kollegiale“ Vorgehens­weise auf dem Rechts­weg angehen zu können, scheiterte aber schon im anschließenden SG-Verfahren und legte deshalb Berufung beim Landes­sozial­gericht ein.

Aber auch das LSG wies die Berufung als unbegründet zurück, mit einer aller­dings bemerkens­werten Begrün­dung: Die Praxis habe die von ihr behaupteten Praxis­besonder­heiten nicht früh genug und auch nicht umfassend genug dargelegt und bewiesen. Praxis­besonder­heiten könnten nur anerkannt werden, wenn ein spezifischer, vom Durch­schnitt der Vergleichs­gruppe signifikant abweichender Behandlungs­bedarf des Patienten­klientels und die hierdurch hervor­gerufenen Mehr­kosten nachgewiesen würden. In der vertrags­arzt­recht­lichen Wirt­schaft­lich­keits­prüfung obliegt die Darlegungs- und Fest­stellungs­last für besondere, einen höheren Behandlungs­aufwand recht­fertigende atypische Umstände, wie Praxis­besonder­heiten und kompensie­rende Einsparungen, der Vertrags­ärztin bzw. dem Vertrags­arzt (Beweis­umkehr). Grund­sätz­lich sei es daher nach richter­licher Auffassung die Angelegenheit der Vertrags­ärztin bzw. des Vertrags­arztes, die für sie bzw. ihn günstigen Tatsachen so genau wie möglich anzugeben und zu belegen, vor allem, wenn sie allein ihr bzw. ihm bekannt sind oder nur durch ihre bzw. seine Mithilfe aufgeklärt werden können. Solche Umstände müssten bereits im Prüfungs­verfahren, spätestens aber gegenüber dem Beschwerde­ausschuss und nicht erst im nach­folgenden Gerichts­verfahren geltend gemacht werden. Die Darlegungen müssten substantiiert sein und spezielle Strukturen der Praxis, aus denen Praxis­besonder­heiten folgen können, aufzeigen. Notwendig sei grund­sätzlich, dass die Ärztin bzw. der Arzt die Patienten­klientel und deren Erkrankungen systematisiert, etwa schwer­punkt­mäßig behandelte Erkrankungen aufzählt und mitteilt, welcher Prozent­satz der Patientinnen und Patienten ihnen jeweils zuzuordnen ist und welcher Aufwand an Behand­lung bzw. Arznei­mitteln durch­schnitt­lich für die Therapie einer solchen Erkran­kung erforderlich ist. Erst dann müssten die Prüf­gremien die Darle­gungen aufgreifen und, soweit veranlasst, zum Gegen­stand weiterer Ermittlungen von Amts wegen machen.

Eine Vorgehensweise dieser Art ist sehr arbeits­aufwändig und kann insbesondere Praxen, die einen „problem­orientierten“ Patienten­stamm versorgen müssen, regel­recht von dieser eigent­lichen ärzt­lichen Aufgabe abhalten. Praxen, die von Wirt­schaft­lich­keits­prüfungen betroffen sind, neigen deshalb dazu, neben den umfang­reich zu erledi­genden Aufgaben in der Praxis, sich nicht ausreichend juristisch qualifi­ziert zu wehren. Die vorliegende Ent­schei­dung, die sich in eine ganze Reihe von gleich­lautenden Urteilen zu diesem Thema einfügt, belegt aber, dass diese Arbeit unbedingt nötig ist, um sich ggf. sogar vor einem existenz­vernichtenden finanziellen Schaden zu schützen.

Bei Abrechnungsfehlern nur anteiliger Regress!

Nach einem Urteil des Sozial­gerichts Gotha darf ein vertrags­ärzt­liches Honorar nicht voll­ständig zurück­gefordert werden, wenn ein Fehler vorliegt, der allein die Abrechnungs­ebene betrifft, d. h. die ärztliche Leistung ordnungsgemäß und vollständig erbracht wurde (Sozialgericht Gotha, Urteil vom 14. Januar 2015; AZ: S 2 KA 4767/11). Dem Urteil lag zwar der Fall einer Dialysegemeinschafts­praxis zugrunde, die anstelle der nach dem EBM abzurechnenden Wochen­pauschale nach den Nrn. 40800, 40802 bzw. 40804 EBM jeweils drei Einzel­sach­kosten­pauschalen nach den Nrn. 40806, 40807 und 40808 berechnet hatte, es kann aber auf jeden anderen ver­gleich­baren Abrechnungs­fall über­tragen werden.

Nach richterlicher Auffassung gebe es keinen generellen und gleich­mäßig schema­tisch auf alle Fälle des schlichten Versehens anzuwen­denden Korrektur­mechanismus, da es unter­schied­liche Fehler­typen, die auf unter­schied­lichen Ebenen liegen könnten, gibt. Es sei daher je nach Fehlertyp und unter Berück­sichtigung des Regelungs­ziels von § 106a Abs. 2 SGB V zu entscheiden, auf welche Weise bzw. in welchem Umfang eine Korrektur vorzunehmen sei. In Gänze könne dabei das Honorar nur dann zurück­gefordert werden, wenn der Fehler auf der Ebene der ärztlichen Leistungs­erbringung liege, da ein Vergütungs­anspruch für fehlerhaft erbrachte ärzt­liche Leistungen nicht bestehe. Wenn aber der Fehler allein die Abrechnungs­ebene betrifft, also lediglich eine falsche Abrechnungs­ziffer angesetzt wurde, kann nach Auffassung des Sozial­gerichts lediglich der Differenz­betrag zurückgefordert werden.

Psychosomatik-Regresse nicht hinnehmen!

Nachdem das Bundes­sozial­gericht seinerzeit entschied, dass bei einer Über­schreitung des Wertes der Vergleichs­gruppe um mehr als 100 % eine pauschale Kürzung der Honorar­anfor­derung möglich ist, wird dies von den Prüf­gremien seither als eine Art „Persilschein“ angesehen, solche Honorar­kürzungen ohne größeren intellek­tuellen Aufwand auszusprechen.

Zumindest in Hessen und dort beim Ansatz der EBM-Psycho­somatik­ziffern 35100 und 35110 sieht das zuständige Sozial­gericht Marburg diese Spruch­praxis als nicht zulässig an. Den Start­punkt markierte eine hessische Fach­ärztin für Allgemein­medizin, bei der die bei der KV Hessen ansässigen Prüf­gremien in den Jahren 2012 bis 2014 wegen des erhöhten Ansatzes der GOP 35110 pauschal und nur auf die Über­schrei­tung des sog. Fach­gruppen­durch­schnitts der Haus­ärztinnen und Haus­ärzte bezogen Honorar­kürzungen festgelegt hatten. Das Sozial­gericht Marburg hob die Bescheide auf und verpflichtete den Beschwerde­ausschuss (BA), die beanstandeten 12 Quartale neu zu bescheiden. Nach richter­licher Auf­fassung war die Prüf­methode nach statisti­schen Durch­schnitts­werten hier unzureichend. Bei der Frage der Wirt­schaft­lich­keit müssten von Amts wegen relevante medizinisch-ärztliche Gesichts­punkte, wie das Behandlungs­verhalten oder Praxis­besonder­heiten, berück­sichtigt werden.

Konkret wurde mit diesem Urteil der Beschwerde­ausschuss (BA) in Hessen aufgefordert, seine Haus­auf­gaben zu machen und die unter­stellte Unwirt­schaft­lich­keit durch eine Einzel­fall­prüfung zu belegen. Dieser Aufforderung ist der BA nicht gefolgt, sondern hat eine Über­prüfung der Rechts­gültig­keit durch Klage beim Landes­sozial­gericht beantragt. Das Gremium fürchtet vermut­lich, sich künftig intellektuell mit der Frage der Wirt­schaft­lich­keit der Behandlung durch Vertrags­ärztinnen und -ärzte beschäf­tigen zu müssen und will einen Präzedenz­fall verhindern. Mittler­weile sind mehrere inhalts­gleiche Klagen von hessischen Vertrags­ärztinnen und -ärzten beim SG eingereicht worden (SG Marburg S 17 KA 527/20, S 17 KA 223/17, S 17 KA 409/17, S 17 KA 476/17, S 17 KA 234/21, S 17 KA 12/18, S 17 KA 13/18, S 17 KA 527/20). Das Sozial­gericht hat diese Verfahren als ruhend gestellt, bis seitens des Landes­sozial­gerichts abschließend über die anhängigen Rechts­fragen entschieden wurde. Das kann zwar etwas dauern, trotzdem sollte man seine Rechte aber wahren.

Dr. med. Gerd W. Zimmermann ist Facharzt für Allgemeinmedizin und seit vielen Jahren als Referent sowie Autor zum Thema Leistungsabrechnung nach EBM und GOÄ tätig.