Video-AU, Wiedereingliederung nach AU und elektronische AU: So ändern sich die Rahmenbedingungen bei der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung!

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Abrechnungstipps von Dr. med. Gerd W. Zimmermann

Zu Beginn der SARS CoV-2-Pandemie war es vorübergehend möglich, Patienten auch nach einem alleinigen Telefonkontakt eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auszustellen. Das wurde wieder abgeschafft. Unabhängig davon ist jetzt aber ziemlich viel Bewegung in die AU-Feststellung gekommen. Die Auswirkungen auf die Praxistätigkeit muss man abwarten. Etwas mehr Bürokratie wird es aber wohl werden.

Nach einem Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) müssen Vertragsärztinnen und -ärzte ab sofort bei jeder Feststellung einer Arbeitsunfähigkeit, die sechs Wochen oder länger dauert, die Möglichkeit einer stufenweisen Wiedereingliederung beim betreffenden Patienten prüfen. Der Anspruch auf eine Wiedereingliederung selbst ist im § 74 SGB V gesetzlich geregelt. Dass dies nun bereits auf der Praxisebene erfolgen soll, ist eine Vorgabe, die im vergangenen Jahr mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) hinzukam. Der G-BA hatte deshalb bereits am 22. November 2019 seine Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie angepasst. Der Bewertungsausschuss (BA) kam danach zum Ergebnis, dass in diesem Zusammenhang keine Anpassung des EBM erforderlich ist und diese Leistung deshalb vertragsärztlich gratis erbracht werden muss.

Zusätzliche Arbeit zum Nulltarif!

Vertragsärztinnen und -ärzte müssen nun bei einer Arbeitsunfähigkeit ab sechs Wochen nicht nur feststellen, ob weiterhin eine Arbeitsunfähigkeit besteht, sondern auch prüfen, ob sie ihrem Patienten eine stufenweise Wiedereingliederung empfehlen können. Auf der AU-Bescheinigung (Formular 1) wird dies durch das Ankreuzen des Feldes „Stufenweise Wiedereingliederung“ dokumentiert. Danach muss mit Einverständnis des Versicherten und nach Rücksprache mit dem Arbeitgeber ein Wiedereingliederungsplan (Formular 20) erstellt werden. So weit war dies bisher auch der Ablauf, wenn auch ohne dieses verpflichtende Element. Hinzu kommt jetzt aber, dass geprüft werden muss, ob eine solche stufenweise Wiedereingliederung auf der Grundlage des körperlichen, geistigen und seelischen Gesundheitszustandes des Patienten überhaupt möglich ist. Dies kann aber nur durch eine (zusätzliche) körperliche, neurologische und psychiatrische Untersuchung erfolgen, soll aber mit der Versichertenpauschale abgegolten sein. Schlimmer noch: Man muss auch prüfen, ob eine stufenweise Wiedereingliederung nicht die Genesung gefährden könnte. Dies hat bereits den Stellenwert einer gutachterlichen Stellungnahme, die noch dadurch verkompliziert werden kann, dass die ärztliche Empfehlung nicht gegen den Willen des Patienten erfolgen darf.

Geht das auch per „Tele-AU“?

Fraglich ist, ob eine solche Arbeitsunfähigkeit auch ohne persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt bescheinigt werden kann, wie dies im Rahmen einer Videosprechstunde nach einem Beschluss des G-BA vom 16. Juli 2020 nunmehr auch möglich ist. Formal wäre dies bei Patienten der Fall, die aufgrund früherer Behandlungen persönlich in der Praxis bekannt sind. Eine Krankschreibung per Video ist zwar nur bei erstmaliger Feststellung und dann auch nur für maximal sieben Kalendertage möglich. Für den Fall der Folgebescheinigung einer AU per Videosprechstunde wurde in § 4 Absatz 5 Satz 4 jedoch vereinbart, dass dies (ohne zeitliche Begrenzung) zulässig ist, wenn bereits zuvor aufgrund unmittelbar persönlicher Untersuchung durch den Vertragsarzt z. B. in der Praxis eine Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit festgestellt wurde. Die Entscheidung liegt dabei allerdings grundsätzlich beim Arzt und der Versicherte hat keinen Anspruch auf eine solche Tele-AU. Wenn keine hinreichend sichere Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit per Videosprechstunde möglich ist, sollte deshalb eine persönliche Untersuchung in der Praxis oder zuhause erfolgen, zumal aus haftungsrechtlichen Gründen der Patient im Vorfeld der Videosprechstunde über die hier eingeschränkten Möglichkeiten der Befunderhebung zum Zwecke der Feststellung der AU aufgeklärt werden muss.

Wie funktioniert die Video-AU?

Nicht die Pandemie, sondern ein Beschluss des 21. Deutschen Ärztetages 2018 in Erfurt ist der Auslöser für die Möglichkeit, eine AU auch auf diesem Weg zu bescheinigen. Dort wurde eine Änderung der Muster‐Berufsordnung (MBO) für Ärztinnen und Ärzte beschlossen, die künftig Fernbehandlungen ermöglichen soll. Die Bundesärztekammer (BÄK) und das Bundesgesundheitsministerium (BMG) forderten daraufhin den Gemeinsamen Bundesausschuss (G‐BA) zur weiteren Abstimmung beziehungsweise Beratung zu diesem Thema auf. Mit Beschluss vom 16. Juli 2020 ist man dort dieser Aufforderung nachgekommen und hat festgelegt, dass Arbeitsunfähigkeit auch im Rahmen von Videosprechstunden festgestellt und bescheinigt werden kann. Im Beschluss wird allerdings betont, dass der Standard für die Feststellung einer AU weiterhin die unmittelbar persönliche ärztliche Untersuchung ist. Lediglich bei Patienten, die aufgrund früherer Behandlungen persönlich in der Praxis bekannt sind, kann die Feststellung einer AU auch im Rahmen der Videosprechstunde (als mittelbar persönlicher Kontakt) bei erstmaliger Feststellung erfolgen. Das ist ein weitgespannter Rahmen, der im Detail interpretationsbedürftig ist.
In § 4 Absatz 5 Satz 2 der AU‐Richtlinie ist geregelt, dass ein Patient, der in der Praxis aufgrund früherer Behandlung unmittelbar persönlich bekannt ist, eine AU im Rahmen einer Videosprechstunde erhalten kann, wenn die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit auf diesem Weg hinreichend sicher beurteilt werden kann. Eine Krankschreibung ausschließlich auf Basis eines Telefonates, einer Chat‐Befragung oder eines Online‐Fragebogens ist dabei explizit ausgenommen.
Es ist in der AU-Richtlinie nicht definiert, wie lange ein vorheriger Kontakt zurückliegen darf, damit eine AU im Rahmen der Videosprechstunde bescheinigt werden kann. Bei Einführung der Videosprechstunde in den EBM wurde allerdings festgelegt, dass die damals berechnungsfähigen Leistungen nach den Nrn. 01439 und 01450 EBM nur zum Ansatz kommen dürfen, wenn in einem der beiden Quartale, die der Berechnung unmittelbar vorausgegangen sind, ein persönlicher APK in der Praxis stattgefunden hat und die Verlaufskontrolle durch dieselbe Praxis erfolgt wie die Erstbegutachtung. Das ist zwar in dieser eindeutigen Form im Rahmen der Weiterentwicklung der Videosprechstunde wieder aufgehoben worden, kann aber als Anhaltspunkt genommen werden.

Nicht alle Krankheitsbilder sind geeignet!

Eine weitere Frage ist, was Krankheitsbilder sind, die auf dieser Grundlage per Videokontakt derart sachgemäß beurteilt werden können, dass eine Video-AU rechtssicher möglich ist. Eine solche Definition gibt es ebenfalls aus den Anfängen der Videosprechstunde. Mit Beschluss vom 1. April 2017 hatte der Bewertungsausschuss festgelegt, dass Videosprechstunden nur beschränkt auf die visuelle postoperative Verlaufskontrolle einer Operationswunde, einer/von akuten, chronischen und/oder offenen Wunde(n), einer/von Dermatose(n), auch nach strahlentherapeutischer Behandlung, von Bewegungseinschränkungen/-störungen des Stütz- und Bewegungsapparates, auch nervaler Genese, als Verlaufskontrolle, die Beurteilung der Stimme und/oder des Sprechens und/oder der Sprache als Verlaufskontrolle oder die anästhesiologische, postoperative Verlaufskontrolle anwendbar sind. Das wurde zwar mit einem weiteren Beschluss des Bewertungsausschusses vom 1. Oktober 2019 bereits etwas aufgeweicht, indem weitere Leistungen wie die Versichertenpauschale und sogar Gesprächsleistungen wie z. B. nach Nr. 03230 EBM in die Videosprechstunde Einzug gehalten hatten. Mit dem aktuellen Beschluss des G-BA ist diese Einschränkung aber nicht völlig aufgehoben.
Eine Video-AU wäre deshalb bei dem Fallbeispiel 1 ohne arbeits- und sozialrechtliche Bedenken uneingeschränkt möglich.

Fallbeispiel 1:

36-jähriger Patient mit Hypertonie als chronische Erkrankung wird per Videosprechstunde wegen einer Lumbago nach Verhebetrauma behandelt, weil er wegen der schmerzhaften Verspannung nicht in die Praxis kommen kann. Es wird Wärmeanwendung empfohlen, ggf. die Einnahme eines zuhause vorhandenen antiphlogistisch wirksamen Analgetikums. Der Patient erhält eine AU-Bescheinigung für 7 Tage mit der Maßgabe, sich in der Praxis vorzustellen, falls die Beschwerden sich innerhalb der folgenden 3–4 Tage nicht bessern.

EBM

Leistungslegende

Euro

Bemerkungen

GOÄ

03003

Versichertenpauschale (VP) für Versicherte ab Beginn des 19. bis zum vollendeten 54. Lebensjahr, einmal im Quartal

12,53

Wenn im Behandlungsfall ausschließlich Videosprechstunden durchgeführt werden, erfolgt auf diese Leistungen ein Abschlag von 20 Prozent auf die Punktzahl. Die Fälle müssen dann mit der Nr. 88220 gekennzeichnet werden.

A5

03040

Zusatzpauschale zur VP für die Wahrnehmung des hausärztlichen Versorgungsauftrags, einmal im Quartal von KV zugesetzt

15,16

 

 

15

03220

Zuschlag zur VP für die Behandlung und Betreuung eines Patienten mit mindestens einer lebensverändernden chronischen Erkrankung, einmal im Quartal

14,28

Im Rahmen einer Videosprechstunde besteht eine Obergrenze von 20 Prozent der berechneten Gebührenordnungspositionen je Vertragsarzt und Quartal.

Diese Regelung ist aktuell im Rahmen der Pandemie bis zum 31.12.2020 aufgehoben.

03230

Problemorientiertes ärztliches Gespräch, das aufgrund von Art und Schwere der Erkrankung erforderlich ist, mindestens 10 Minuten

14,06

A1

 

Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

 

 

70

01450

Zuschlag zur VP je APK im Rahmen einer

Videosprechstunde oder Videofallkonferenz

4,39

Höchstwert 1.899 Punkte (205,52 Euro)

60

01451

Anschubförderung für Videosprechstunden je APK im Rahmen einer Videosprechstunde

9,96

Wird, wenn mindestens 15 Videosprechstunden durchführt wurden, durch die KV je durchgeführter Videosprechstunde bis zu einem Höchstwert von 4.620 Punkten (500 Euro) zugesetzt.

Faktor

Quelle: EBM, GOÄ, Beschluss des G-BA vom 16. Juli 2020

Ist keine hinreichend sichere Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit per Videosprechstunde möglich, muss eine persönliche Untersuchung in der Praxis oder zuhause erfolgen. Der Patient sollte unter diesem Aspekt im Vorfeld der Videosprechstunde auch über die hier eingeschränkten Möglichkeiten der Befunderhebung zum Zwecke der Feststellung der AU im Rahmen der Videosprechstunde aufgeklärt werden. An dieser Stelle kommt neben der arbeits- und sozialrechtlichen Komponente auch ein haftungsrechtliches Element hinzu. Hier geht es weniger darum, ob auf der Grundlage des o. g. Beschlusses des Bewertungsausschusses die dort genannten Erkrankungen grundsätzlich aus medizinischer Sicht über eine Videosprechstunde behandelt werden können, sondern die Frage, ob bei der jeweiligen Erkrankung die Möglichkeiten im Rahmen einer Videosprechstunde ausreichen, um zu vermeiden, dass unmittelbar gefährliche Verlaufsformen nicht erkannt werden. Hier liegt sicherlich ein nicht unerhebliches Haftungsrisiko, das man unbedingt rechtsverbindlich durch eine solche ausdrücklich im Beschluss des G-BA vorgesehene Aufklärung des Patienten vermeiden sollte. Als juristisch denkbare Vorgehensweise käme hier die Erklärung gegenüber dem Patienten in Anwesenheit einer MFA in Betracht. Eine solche (besondere) Aufklärung wäre z. B. bei dem Fallbeispiel 2 erforderlich. Dem Patienten müsste mitgeteilt werden, dass eine psychosomatische Komponente der Beschwerden zwar naheliegt, im Hinblick auf die vorhandenen Risikofaktoren aber eine organische (z. B. kardiale) Ursache per Videosprechstunde nicht ausgeschlossen werden kann.

Fallbeispiel 2:

46-jähriger Patient mit Hypertonie und Diabetes mellitus wird auf eigenen Wunsch per Videosprechstunde wegen zuletzt häufiger Panikattacken und Spannungsgefühl in der Brustgegend behandelt. Er führt eine Eigenmessung des Blutdruckes und des Blutzuckerwertes am Beginn der Sitzung durch. Die Werte liegen im Normbereich. Der Patient berichtet allerdings, dass er schon seit mehreren Wochen Probleme am Arbeitsplatz hat. Nach einem psychosomatisch-therapeutischen Gespräch erhält er eine AU-Bescheinigung für 7 Tage mit der Maßgabe, sich am Ende der AU nochmals in der Praxis vorzustellen.

EBM

Leistungslegende

Euro

Bemerkungen

GOÄ

03003

Versichertenpauschale (VP) für Versicherte ab Beginn des 19. bis zum vollendeten 54. Lebensjahr, einmal im Quartal

12,53

 

 

Wenn im Behandlungsfall ausschließlich Videosprechstunden durchgeführt werden, erfolgt auf diese Leistungen ein Abschlag von 20 Prozent auf die Punktzahl.

A5

03040

Zusatzpauschale zur VP für die Wahrnehmung des hausärztlichen Versorgungsauftrags, einmal im Quartal von KV zugesetzt

15,16

 

 

15

03220

Zuschlag zur VP für die Behandlung und Betreuung eines Patienten mit mindestens einer lebensverändernden chronischen Erkrankung, einmal im Quartal

14,28

Die Leistungen unterliegen, wenn sie im Rahmen einer Videosprechstunde erbracht wird, einer Obergrenze von 20 Prozent der berechneten Gebührenordnungspositionen je Vertragsarzt und Quartal.

Diese Regelung ist aktuell im Rahmen der Pandemie bis zum 31.12.2020 aufgehoben.

35100

Differentialdiagnostische Klärung psychosomatischer Krankheitszustände, mindestens 15 Minuten

21,21

A1

 

01450

Zuschlag zur VP je APK im Rahmen einer

Videosprechstunde oder Videofallkonferenz

4,39

Höchstwert 1.899 Punkte (205,52 Euro)

60

01451

Anschubförderung für Videosprechstunden je APK im Rahmen einer Videosprechstunde

9,96

Wird bei mindestens 15 Videosprechstunden durch die zuständige KV je durchgeführter Videosprechstunde bis zu einem Höchstwert von 4.620 Punkten (500 Euro) zugesetzt.

Multiplikator

Quelle: EBM, GOÄ, Beschluss des G-BA vom 16. Juli 2020

Dr. med. Gerd W. Zimmermann ist Facharzt für Allgemeinmedizin mit eigener Praxis in Hofheim/Taunus und seit vielen Jahren als Referent sowie Autor zum Thema Leistungsabrechnung nach EBM und GOÄ tätig.